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Vor-Urteil bringt Vor-Vorteil

Vorurteile sind so alt wie die Menschheit selbst– ca. 200.000 Jahre. Voraussetzung für das Überleben waren damals und sind heute noch Kooperation und Arbeitsteiligkeit. Wer auf die Jagd ging, vertraute darauf, dass andere das Feld bestellten, kochten – und einem etwas übrig ließen, welche ihrerseits davon ausgehen konnten, dass die Jagdbeute mit ihnen geteilt wurde.

Ursprünglich waren es kleine Gemeinschaften wie Sippen und Stämme, die darauf bauten, dass ihre Mitglieder einander friedlich gesinnt waren und bereit, ihren Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten. Fremde, nicht Angehörige waren eine (potentielle) Bedrohung. Sie waren auf den ersten Blick an der Andersartigkeit der Kleidung, des Schmucks, der Haartracht, des Bartes, der Sprache, der Hautfarbe, der Rituale usw. erkennbar.

Der große Stellenwert der klein(st)en Einheit ist nach wie vor unverändert. Der überwiegende Teil fühlt sich zuerst als Familienmitglied, dann vielleicht als dem Wohnort und dem Heimatland zugehörig und erst viel später als EuropäerIn oder gar WeltbürgerIn.

Dieser Reiz-Reaktionsmechanismus des Vor-Urteils wohnt uns nach wie vor inne. In Bruchteilen von Sekunden erkennen wir unbewusst, ob jemand „eineR von uns ist“ oder nicht – und wenn nicht, wird automatisch die Alarmbereitschaft erhöht oder schon Alarm ausgelöst. Das schubladisierende, verallgemeinernde Einordnen anderer aufgrund einzelner Merkmale erspart uns den energieraubenden Prozess des genauen Hinschauens.

Das bewusste Wahrnehmen wird ersetzt durch die „Vor-Stellung“, die wir vor die andere Person stellen und somit zwischen uns und sie. Schon ein einziges Wort oder ein winziges Detail setzt diesen Prozess in Gang. Wir spüren immer, wer „eineR von uns ist“ und wer nicht bzw. „eineR von den anderen“. Damit verbunden ist die Erwartungshaltung, dass die, zu denen wir gehören, bereit sind, etwas für oder mit uns zu tun und andererseits die Befürchtung, dass die anderen potentiell die Versorgung unserer Bedürfnisse und Interessen gefährden oder uns insgesamt bedrohen.

Bis hierher kann man sagen, Vorurteile bieten wichtige Vorteile. Sie sorgen für rasche Orientierung, vermitteln Sicherheit, stärken das WIR-Gefühl und „entlarven“ potentielle Feinde rasch.

Dass Vorurteile auch in Zukunft in jedem von uns anspringen, lässt sich nicht vermeiden, zu stark und zu – in der Vergangenheit – wertvoll ist diese Verschaltung in unserem Gehirn. Was wir jedoch darüber hinaus entwickelt haben, – und darauf sind wir mehr oder weniger stolz – ist Kultur. Kultur kann man an dieser Stelle definieren als Ergänzung der instinkthaften, unbewusst wirksamen Prozesse durch das bewusste Denken – also die Nutzung des Verstandes zur Wahrnehmung, für Entscheidungen und insgesamt der Gestaltung von Begegnungen sowie Rahmenbedingungen des soziales Miteinanders. Das kann in zwei gegensätzliche Richtungen stattfinden:

  1. Der Verstand hat sozusagen ein wirkungsvolles „Vetorecht“ beim Auftreten eines Vorurteils. Statt von der Vor-Stellung geleitet, kann dann ein Gegenüber auch tatsächlich und in seiner Vielfalt an Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit erkannt werden. Es können neue Kooperationen entstehen, Vereinbarungen können ausgehandelt werden, gemeinsame Interessen gefunden und Verantwortung gemeinsam getragen werden. Das ursprüngliche Vor-Urteil wird zum Impulsgeber für die Aktivierung des Verstandes mit seiner kommunikativen, sozialen und kreativen Kompetenz.
  2. Der Verstand wird als „Pressesprecher“ der unbewussten Vor-Urteilsprozesse eingesetzt. Er liefert dann in Form von Rationalisierungen, scheinkausalen Argumenten, Verkürzungen und Deutungen die Richtigkeit für die gefühlten Vorurteile. Die Wirkung des Vor-Urteils wird verstärkt und nach außen getragen.

Das Phänomen der Vorurteile und die beiden o.a. sehr unterschiedlichen Arten, den Verstand zu nutzen, zeigt sich in allen Lebensbereichen und sozialen Gemeinschaften gleich welcher Art und Größe. In Familien wie in Organisationen, am Stammtisch wie in politischen und lebensanschaulichen Gruppierungen.

Wollte man Kultur bewerten könnte man beispielsweise sagen:

  • Je kultivierter ein Land, desto lauter und verhaltensgestaltender die Stimme des Vetorechts.
  • Umgekehrt würde Karl Kraus, der große österreichische Publizist und Satiriker wahrscheinlich sagen: „Wo die Sonne der Kultur besonders niedrig steht, da werfen die lautesten Pressesprecher-Zwerge die längsten Schatten.“
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