In diesem Eintrag geht es um Beispiele aus dem Alltag, wie stark der Einfluss der drei zentralen Bedürfnisse Sicherheit, Zugehörigkeit und Wachstum auf das Verhalten wirkt.
RITUALE UND SYMBOLE FÜR DIE VERSORGUNG DES BEDÜRFNISSES NACH SICHERHEIT
Das Zeigen der offenen Hand bei Begrüßungsritualen diente ursprünglich dazu, zu signalisieren, dass man ohne Waffen und daher in friedlicher Absicht kommt.
Alle Unterwerfungsrituale waren und sind der Versuch, überlegene Personen, Gruppen oder Institutionen gnädig zu stimmen und sich somit gefahrlos in ihrer Nähe oder ihrem Einflussbereich aufhalten zu können. Das beginnt beim angedeuteten Senken des Kopfes und reicht bis hin zum Präsentieren der Kehle als Anerkenntnis der Niederlage, um wenigstens überleben zu können.
Aus demselben Grund wurden und werden Opfergaben gebracht, die die Gottheit besänftigen sollen.
Versprechen und das Schwören sind ebenfalls Rituale zur Erhöhung von Sicherheit.
Viele Versprechen politischer Parteien werden geglaubt, weil der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Besteht doch ein großer Teil der Aktivitäten politischer Gruppierungen heute daraus, selbst Versprechen abzugeben und gleichzeitig unermüdlich zu beweisen, dass die anderen ihre Versprechen nicht einhalten. Insbesondere in Wahlkampfzeiten wird mit großem finanziellen – übrigens vom Steuerzahler bezahlten Aufwand – von Marktforschern, Beratungsunternehmen, Psychologen, Kommunikationsforschen und anderen Experten untersucht, was die Wahlbevölkerung aktuell besonders befürchtet und was sie sie sich derzeit besonders wünscht. Die Ergebnisse werden in mantra-artige Versprechen verpackt und schon „weiß“ der mündige Bürger, wofür eine Partei steht.
Alle Prüf- und Prüfbestätigungszeichen wollen und sollen Sicherheit vermitteln. Die Prüfplakette des Autos, das VDE—Zeichen auf Elektrogeräten, Gütesiegel jeder Art sind alles Beiträge zur Versorgung des Bedürfnisses nach Sicherheit.
Das Bedürfnis nach Kontrolle und Kontrollverhalten entspringen ebenfalls dem Bedürfnis nach Sicherheit. Viele fühlen sich sicherer, wenn sie das Gefühl haben (und daher glauben), sie hätten alles im Griff. Abgesehen davon, dass das kaum möglich ist, übersehen diese Personen, dass man, wenn man alles im Griff hat, keine Hand frei hat für etwas, das man noch nicht besitzt.
Auch der Konsum von Alkohol entstand ursprünglich aus dem Bedürfnis, für (mehr) Sicherheit zu sorgen. Als vor 15.000 Jahren die Bevölkerungsdicht so stark zugenommen hatte, dass sich regelmäßig fremde Gruppen, Sippen oder Stämme begegneten, war der gemeinsame Konsum von Alkohol ein erfolgreiches Ritual. Alkohol hatte und hat bei nahezu allen Konsumenten gleiche oder ähnliche Wirkung. Barrieren und Schranken fallen leichter, man geht mehr aus sich heraus, manche sind dann geradezu außer sich. Unterschiede in der Kultur, der Sprache, der äußeren Erscheinung und der Gewohnheiten treten in den Hintergrund, das Sich-Ähnlich-Sein durch den Einfluss des Alkohols rückt in den Fokus der Aufmerksamkeit. Je ähnlicher sich Menschen erleben, desto größer ist das Vertrauen zueinander.
Als erwünschte Nebenwirkung schwinden durch das Einnehmen eines promillehaltigen Getränks die für das Führen eines Kampfes oder einer kriegerischen Auseinandersetzung erforderlichen physischen und psychischen Fähigkeiten. Unter diesen Umständen fällt es viel leichter, sich näher zu kommen, besser kennen zu lernen und sich sicher zu fühlen.
Heutzutage führen diese Auswirkungen von Alkoholkonsum bei Betriebsausflügen und Firmenfeiern nicht selten zu peinlichen Situationen, wenn Aus- und Ernüchterung erfolgt sind. Wie lässt sich ein leichtfertig angebotenes DU wieder rückgängig machen, falls einem nicht das alkoholbedingte Blackout der anderen Seite zu Hilfe kommt? Wie lassen sich an einen One-Night-Stand verknüpfte Hoffnungen, Erwartungen und mögliche Forderungen außer Kraft setzen? Insbesondere wenn die Annäherung die Barrieren der Hierarchiegrenzen überwunden hat, kann das zu Neuordnungen in der informellen Ordnung der Abteilung oder des Teams führen. Die Folgen der promillegetränkten emotionalen und körperlichen Annäherungen reichen gelegentlich bis in den privaten Bereich der Beteiligten.
Das sind jetzt Beispiele dafür, dass die Wirkung eines Rituals, das ursprünglich zu höherem Schutz und mehr Sicherheit geführt hat, bei Missbrauch auch das Gegenteil bewirken kann.
Interessant wäre ein Experiment, in dem sich feindlich gesinnte Personen, Gruppen oder Armeen gemeinsam betrinken, bevor sie ihre feindlichen und mörderischen Absichten umsetzen. Aber das wird wohl ein reines Gedankenspiel von mir bleiben.
RITUALE UND ZEICHEN DER ZUGEHÖRIGKEIT
Das gemeinsame Essen in Familien ist ein Vergemeinschaftungsritual, mit dem die Zugehörigkeit bestätigt und verstärkt wird. Wenn Jugendliche beginnen, sich davor “zu drücken”, weist das auf den beginnenden Ablösungsprozess hin. Schade wäre, wenn die Abwesenheit als Desinteresse an der Familie gewertet wird, da Schaffen von Distanz dient einem wichtigen Entwicklungsschritt und ist nicht gegen jemanden gerichtet.
Bestimmte Gruppen haben spezifische Formen der Begrüßung entwickelt. Vor allem bei Jugendlichen ist das sehr ausgeprägt. In anderen Kreisen war und ist es der Handkuss. Auch Freimaurer und die Mitglieder anderer Logen oder die Mitglieder des Ku-Klux-Klans erkennen einander an der Begrüßung. Die Anzahl der Wangenküsse ermöglicht ebenfalls, zu unterscheiden, wer wo dazugehört. Ganz zu schweigen von der ausgestreckten Hand, die Symbol einer unsäglichen Gesinnung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde.
Logos, CI, Anstecknadeln, Wappen, Dresscodes, Arbeitsuniformen, Ausweise, Aufschriften, Aufkleber, Fahnen, Farbkombinationen sind optische Kennzeichen von Zugehörigkeit. Eheringe und Siegelringe sind öffentliche Bekenntnisse derselben.
Die Kenntnis und das Verwenden von Fachbegriffen verschafft Zutritt zu Expertenkreisen, deren Unkenntnis schließt einen aus.
Urkunden, Zertifikate, Zeugnisse sind weitere Formen der Dokumentation, wo man dazugehört.
Weitere Erkennungszeichen von Zugehörigkeit, sind „Zugehörigkeits-Songs“ wie z.B. eine Bundeshymne, Vereinslieder oder Musikstücke. Auch verbale Etiketten stellen klar, wo man dazugehört wie etwa „Ich bin ein Siemensianer“, „Austrianer“, „Rapidler“, „Single“, „Steirer“, „Buddhist“, usw.
Klarheit über Zugehörigkeit entsteht auch durch Grenzziehung. Zutrittserlaubnis bzw. -barriere sorgen für die Einhaltung von Grenzen. Oft dienen sie gleichzeitig auch der Versorgung des Bedürfnisses nach Sicherheit, sind also ein erstes Beispiel dafür, dass etwas gleichzeitig der Versorgung von mehr als einem Bedürfnis dienen kann.
Wer auf einem Motorrad im öffentlichen Verkehr unterwegs ist, wird von anderen Bikern mittels Handzeichen gegrüßt, alle anderen Verkehrsteilnehmer nicht.
Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist die Sprache. Beherrscht man eine Sprache, wird Zugehörigkeit viel eher anerkannt bzw. sind gute Sprachkenntnisse die Voraussetzung dafür, eine Aufenthaltsgenehmigung oder Staatsbürgerschaft zu erhalten.
Wenn Kinder oder Jugendliche mit dem Rauchen beginnen, dann nicht, weil die erste Zigarette ein geschmacklicher Hochgenuss ist, sie schmeckt im Gegenteil für die meisten grauslich. Doch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist größer. Der Gruppenzwang bewirkt, erstmals und dann regelmäßig Nikotin zu konsumieren.
Schon in der Volkschule war es für meine Tochter enorm wichtig, Schuhe der angesagtesten Marke (damals Converse) zu tragen, um „dabei zu sein“.
WENN DAS BEDÜRFNIS NACH INNEREM WACHSTUM VERLOREN GEHT
Wie schon ausgeführt, sind Kinder von Natur aus neu – gierig, verfügen also über einen starken Antrieb für persönliches Wachstum. Wachsen sie in einem Umfeld aus, welches diese Entwicklung unterstützt, indem sich der gemeinsame Fokus der Aufmerksamkeit auf Talente, Stärken und Erfolge richtet. Die Neugierde bleibt erhalten. Das bedeutet nichts anderes, als lernen zu wollen, auch als Erwachsene. Wie sehr das Lernen-Wollen in uns Menschen angelegt ist, zeigt die Neurobiologie. Sie hat festgestellt, dass die Areale, welche für das Glücksgefühl zuständig sind und jene, welche der Treiber des Lernens sind, unmittelbar beisammen liegen. Das ist naheliegend, denn jeder Lernerfolg löst ein Glücksgefühl und die Ausschüttung von „Belohnungshormonen“ aus.
Sind Kindheit und Jugend von einem kritischen, defizitorientierten Umfeld bestimmt, fällt die Neugierde in einen komaähnlichen Zustand und liefert keine Handlungsimpulse mehr. Das Ergebnis ist, dass diese Menschen als Erwachsene nicht mehr neu-gierig , sondern alt-gierig sind. Persönliches Wachstum wird kompensiert durch äußeres Wachstum und das Bedürfnis nach Sicherheit gewinnt gleichzeitig wesentlich an Stellenwert. Diese Heranwachsenden gehören der großen Gruppe derer an, die am Beginn ihrer Schullaufbahn hochbegabt waren und am Ende nichts mehr davon erkennbar ist.
Wie absurd das Schulsystem ist, lässt sich daran erkennen, dass für die beste aller möglichen Leistungen sehr häufig der Fehler das Kriterium ist: die Benotung lautet dann: „Null Fehler“. Wer kann sich da langfristig noch über Erlerntes freuen, wenn jede gute Leistung doch wieder nur dazu führt, dass über Fehler gesprochen wird.
In Organisationen, in denen Veränderungen stattfinden, begegne ich jede Woche MitarbeiterInnen, die skeptisch gegenüber dem Neuen ist. Oft legen sie ein Verhalten an den Tag, das gemeinhin als Widerstand gegen die Neuerungen bezeichnet wird. Diese Personen haben sicherlich gute Gründe für ihr Verhalten. Oft haben sie vergessen, wie gerne sie als Kind etwas gelernt haben, da ihre Erfahrungen mit Lernen und Schule negativ besetzt waren und sind. Mit etwas Zeit gelingt es häufig, diese schlummernde Neugier zu reaktivieren, vorausgesetzt, innerhalb der Veränderungen werden ausreichende Möglichkeiten zur Versorgung der zentralen Bedürfnisse eingeschätzt.